Wenn am Sonntag der Bundestag neu gewählt wird, gerät auch eine Stadt wie Berlin an ihr
Limit: Marathon und Bundestagswahl am selben Tag versetzen das Regierungsviertel in einen
logistischen Ausnahmezustand.
Berlin wird an diesem Dienstag mit der Blauen Linie aufwachen. Wolfgang Weising hat über Nacht
unter dem Schutz einer kleinen Polizeieskorte mit seinem "Eisenschwein" wieder die Ideallinie
für den bevorstehenden Berlin-Marathon auf das Straßenpflaster der Hauptstadt gezogen.
Wenn am Sonntagmorgen knapp 40 000 Teilnehmer auf die 42,195 Kilometer geschickt werden, steht
auch eine Stadt wie Berlin am Limit. Am selben Tag absolviert die Bundes-
hauptstadt mit dem
Berlin-Marathon das nach Angaben des Veranstalters "größte Sportspektakel Deutschlands"
– mit Start und Zielgebiet im Herzen des Regierungsviertels zwischen Reichstagsgebäude und
Bundeskanzleramt. Und eben die Bundestagswahl in der viertgrößten Volkswirtschaft
der Erde.
All dies in Zeiten des Terrors. Entsprechend sind auch die Sicherheitsbehörden wachsam,
war doch im April 2013 mit dem Terroranschlag auf den Boston-Marathon erstmals ein Lauf aus
der "World Marathon Majors"-Serie, zu der auch Berlin zählt, Ziel eines Attentates. Durch
die Explosion zweier Nagelbomben in unmittelbarer Nähe zur Ziellinie kamen dabei drei Menschen
ums Leben, 180 wurden verletzt. Bislang geben sowohl das Bundesinnenministerium wie auch die
Berliner Polizei geben keine Terrorwarnung für den Wahl- und Marathon-Sonntag in der Bundeshauptstadt
ab. "Für den Berlin-Marathon liegen den Bundessicherheitsbehörden keine konkreten Hinweise auf
mögliche Anschlagsversuche vor“, heißt es dazu aus dem Hause von Bundesinnenminister
Thomas de Maizière, zugleich zuständig für den Sport. Die Gefährdungslage in
Deutschland: „unverändert hoch“. Die grundsätzliche Bewertung der Sicherheitslage
für Deutschland durch den islamistischen Terror habe sich „nicht verändert". Soll
heißen: Anschläge jederzeit möglich. Das Innenministerium weist darauf hin, dass
die jüngsten Anschläge in Europa vor allem sogenannte "weiche Ziele" getroffen "und damit
in die Mitte der an der westlichen Lebensweise orientierten Gesellschaft" gezielt hätten.
"Menschenansammlungen und insbesondere Groß-Veranstaltungen mit hohem Publikumsverkehr liegen
dabei grundsätzlich im Zielspektrum islamistisch motivierter Anschläge", so die
Lageeinschätzung.
Ein Marathon wie der in Berlin zählt zu den sogenannten "weichen Zielen". Die komplette
Strecke zu schützen, ist nahezu unmöglich. Start und Ziel in unmittelbarer Nähe
zu Kanzleramt und Bundestag sind schon Herausforderung genug. Bislang ist dieser Wahlkampf
terrorfrei geblieben. Ein Anschlag am Wahlsonntag im Regierungsviertel auf eine der weltweit
größten Laufveranstaltungen, von der Fernsehbilder in 150 Länder gesendet werden,
wäre eine Art Terror-GAU. Für die rund 40 000 Läufer am Sonntag gibt es keine
elektronischen Kontrollen, sondern frühmorgens lediglich Sichtkontrollen an den Eingängen
zum Startgebiet. SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann zur Terminüberschneidung von Marathon und
Bundestagswahl: "Großereignisse müssen möglich sein, auch wenn das eine
logistische Herausforderung ist. Wenn wir aus Angst vor Terroristen einknicken, dann haben wir
schon verloren." Markus van Stegen von der Berliner Polizei: "Es gibt zurzeit keine Erkenntnisse,
dass der Marathon gefährdet ist.“ Jürgen Lock, Geschäftsführer des Veranstalters
SCC Events sagt zur Sicherheit rund um den Marathon am Wahlsonntag: "Es sind alle Entscheider
zusammen, wenn es ein Szenario gibt".
Die stellvertretende Landeswahlleiterin Ulrike Rockmann verhehlt zu Beginn dieser Marathon- und
letzten Wahlkampfwoche nicht, dass sie eine Termin-
kollision der beiden Großereignisse lieber
vermieden hätte. "Wir hätten es gerne anders gemacht, dass die Ereignisse eben nicht
zusammenfallen." So wie bereits 2009, als der Berlin-Marathon, der jedes Jahr am letzten
September-Sonntag fest gesetzt ist, auf den 20. September vorgezogen wurde, um eine
Terminüberschneidung mit der damaligen Bundestagswahl (27. September) zu vermeiden. Doch
in diesem Jahr hätten einige Bundesländer unbedingt auf den 24. September als Wahltermin
bestanden. So wird gelaufen und gewählt.
Für 30 Wahllokale in Berlin bedeutet dies, dass Tausende Wählerinnen und W6auml;hler
dort die Strecke während des laufenden Marathons kreuzen müssen, bevor sie ihr Kreuz
auf den Wahllisten wie auch beim Volksentscheid über einen Weiterbetrieb des Flughafens
Tegel machen können. Etwa 15 000 Wähler, die am Wahlsonntag sozusagen auf der falschen
Seite der Marathonstrecke wohnen, werden dann von einigen der insgesamt 6 200 Helfer über die
Strecke gelassen. In Schreiben haben die Wahlämter die Anwohner informiert, in welchen
Zeitabschnitten sie besser nicht wählen gehen.
Wenn mit Eliud Kipchoge, Wilson Kipsang und Kenenisa Bekele die absolute Weltspitze der
Männer mit mehr als 21 Stundenkilometern auf Weltrekordjagd unterwegs ist, müssen
die Wähler warten. Wie hatten Bundeskanzlerin Angela Merkel und auch SPD-Kanzlerkandidat
Martin Schulz immer wieder betont? Ein Wahlkampf seine eine Frage der Ausdauer und werde erst
"auf den letzten Metern" entschieden. Schulz hatte gar explizit von einem "Marathonlauf"
gesprochen. Es komme auf das Stehvermögen auf den letzten Kilometern an. Am Sonntag folgt
der Beweis. Für Merkel und Schulz – für Kipchoge, Kipsang und Bekele. In den Wahllokalen wie
auf der Strecke.
Holgers Twitter-Nachrichten stehen
hier.